Zhang Xin: Nach dem Neoliberalismus Staatskapitalismus in China und Russland
Source:Osteuropa
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Nach dem Neoliberalismus
Staatskapitalismus in China und Russland
Xin Zhang
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Abstract
Die staatskapitalistischen Systeme Chinas und Russlands weisen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf. In beiden Ländern gibt es einen freien Markt, und sie sind in die Weltwirtschaft integriert. Gleichzeitig setzten sie nie auf ein lupenreines neoliberales Programm. Moskau und Peking haben in Schlüsselsektoren die Rolle des Staates als Investor und Kreditgeber gestärkt. Davon versprechen sie sich Vorteile im globalen Wettbewerb. Zwar beanspruchen China und Russland nicht mehr wie zu Zeiten des Ost-West-Konflikts, ein alternatives Modell zum Kapitalismus zu repräsentieren. Die staatskapitalistischen Regime sprechen lediglich von „Entwicklung“ und „Modernisierung“ als höchstem Ziel ihrer Politik.
(Osteuropa 5-6/2015, S. 21–32)
Volltext
Die staatskapitalistischen Systeme Chinas und Russlands weisen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf. In beiden Ländern gibt es einen freien Markt, und sie sind in die Weltwirtschaft integriert. Gleichzeitig setzten sie nie auf ein lupenreines neoliberales Programm. Moskau und Peking haben in Schlüsselsektoren die Rolle des Staates als Investor und Kreditgeber gestärkt. Davon versprechen sie sich Vorteile im globalen Wettbewerb. Zwar beanspruchen China und Russland nicht mehr wie zu Zeiten des Ost-West-Konflikts, ein alternatives Modell zum Kapitalismus zu repräsentieren. Die staatskapitalistischen Regime sprechen lediglich von „Entwicklung“ und „Modernisierung“ als höchstem Ziel ihrer Politik.
China und Russland waren die beiden größten und wichtigsten kommunistischen Staaten. Daher wird bereits seit Mitte der 1980er Jahre ihr Übergang in den Postkommunismus verglichen. Der Volksrepublik China wird wegen der phänomenalen Wachstumsraten und einer überwältigenden sozialen Entwicklung in den vergangenen 30 Jahren in der Regel ein erfolgreicher Übergang bescheinigt. Meist wird dies damit begründet, dass Reformen behutsam vollzogen worden sind und so Revolten und Revolutionen vermieden worden sind. Russland hingegen habe den sozialen und ökonomischen Niedergang in den 1990er Jahren durch die Schocktherapie der frühen 1990er Jahre selbst verschuldet. Während in China der Staatsapparat sowie das Monopol der Kommunistischen Partei erhalten blieben und so zentrifugale Kräfte unterdrückt wurden, habe das Ende der Einparteienherrschaft Russland an den Rand des Staatszerfalls geführt.[1]
Nach Jahren der höchst unterschiedlichen Entwicklung nähern sich China und Russland jedoch seit anderthalb Jahrzehnten wieder einander an. In beiden Ländern herrscht heute ein staatszentriertes Entwicklungsmodell vor, das man als „neuen Staatskapitalismus“ bezeichnen kann. Zuvor standen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in beiden Ländern seit Mitte der 1980er Jahre unter dem Einfluss des neoliberalen Washington Consensus, also des unbedingten Glaubens an die segensreiche Wirkung freier Märkte sowie einer Beschneidung des Staates.[2]
In China und Russland hat – wie in einer Reihe weiterer großer Länder mit aufstrebenden Volkswirtschaften – seit dem Ende der 1990er Jahre der Staat ein Comeback erlebt. Das „Ende der Geschichte“ ist vorbei, der Triumphzug des Neoliberalismus mit seiner heiligen Trias Liberalisierung, Stabilisierung und Privatisierung zu Ende. Nicht nur hat der Staat in Russland und China wieder die Kontrolle über große Teile der Wirtschaft übernommen. Beide Länder versuchen mittlerweile auch, ihr Modell zu exportieren und neue Regeln für die internationale politische Ökonomie durchzusetzen. Der Wettbewerb zwischen Staatskapitalismus und freier Marktwirtschaft wird daher auf lange Zeit die Weltwirtschaft prägen.[3]
Staatskapitalismus früher und heute
Der Begriff „Staatskapitalismus“ hat in zahlreichen historischen Kontexten Verwendung gefunden. Gewöhnlich bezeichnet er jedoch ein polit-ökonomisches System, das zwischen klassischem Kapitalismus und Sozialismus steht. Der Staat kontrolliert die Mehrheit des Kapitals, setzt aber auf kapitalistische Rezepte, um die Wirtschaftsleistung und die Gewinne zu steuern. Auf diese Weise soll eine Modernisierung erreicht werden, die mit einem rein kapitalistischen System nicht stattfinden würde. In einer späteren Phase verteilt der Staat die Überschüsse aus der Kapitalakkumulation um, so dass diese der Mehrheit der Gesellschaft und nicht alleine den Kapitalbesitzern zugutekommen. So soll eine gerechtere Gesellschaft geschaffen werden.[4]
Frühe Verfechter des Staatskapitalismus verfolgten zudem das Ziel, ein grundlegendes Problem von Staaten mit nachholender Entwicklung zu lösen: Trotz eines schwachen „nationalen Bürgertums“ und einer Dominanz der entwickelten kapitalistischen Länder sollte die nationale Unabhängigkeit gewahrt werden. In Staaten mit nachholender Entwicklung sind daher die Bürokratien die einzigen Akteure, die für einen unabhängigen Entwicklungspfad sorgen, vor allem indem sie eine Industrialisierung des Landes anstoßen und vorantreiben. Mögen diese Ziele auch anerkennungswürdig sein, so bedeutet dies noch nicht, dass eine vom Staat forcierte Industrialisierung gelingt. Diese kann in Abhängigkeit von der Klassenstruktur der jeweiligen Gesellschaft wie der Weltgesellschaft sehr unterschiedlich ausgehen.[5]
Im frühen 20. Jahrhundert war der Staatskapitalismus in erster Linie eine Reaktion auf die Vernachlässigung der Peripherien durch die imperialen Zentren, in den 1960er und 1970er Jahren dann eine Antwort der Entwicklungsländer auf ihre „Abhängigkeit“ von den Industriestaaten. Heute hat der Aufstieg des Staates in vielen Ländern damit zu tun, dass diese eine Gegenmacht gegen die von der angelsächsischen Welt vertretene neoliberale Agenda bilden wollen.
Für China und Russland hat die Ära des Neoliberalismus viele Vorteile gebracht. Die Integration in das von den USA und ihren Verbündeten geschaffene liberale Weltwirtschaftssystem hat in China seit den frühen 1980er Jahren und in Russland seit dem Jahr 2000 zu einem explosiven Wachstum geführt. Gleichzeitig spielte der Staat in beiden Ländern eine entscheidende Rolle in der Wirtschaft. Während in den kapitalistischen Ländern der Staat lediglich nach der Finanzkrise von 1997/1998 für eine kurze Zeit gestärkt wurde, setzte in China und Russland der Staat die gängigen neoliberalen Rezepte sehr selektiv ein, um den Interessen der politischen Eliten zu dienen und auf das Verhältnis zwischen Staat und auf die Gesellschaft einzuwirken. Selbst jene Dogmen des Washington Consensus, die China und Russland umsetzten, wandelten sie stark ab. So entstand ein hybrider Staatskapitalismus.
China: Die Staatspartei bleibt an der Macht
Nachdem Deng Xiaoping 1978 die neue Reform- und Öffnungspolitik verkündet hatte, übernahm China in den folgenden zehn Jahren euphorisch das westliche Modell, insbesondere die Idee des Marktes als Prinzip der Ressourcenallokation. Die Proteste auf dem Tian’anmen-Platz im Jahr 1989 brachten dann einen dramatischen Bruch. Doch Dengs berühmt gewordene „Reise in den Süden“ leitete im Jahr 1992 eine neue Phase der ökonomischen Reformen ein. Jeder politischen Liberalisierung erteilte die kommunistische Führung aber weiter eine Absage.[6]
Der Beginn der neuen Wachstumsperiode in China fiel mit dem Ende der Sowjetunion und der raschen weltweiten Verbreitung der neoliberalen Ideologie zusammen. Drei ökonomische Reformschritte waren entscheidend für China: die Freigabe aller Preise, eine konsequente Austeritätspolitik und die Rezentralisierung der fiskalischen Ressourcen. Zhu Rongji, der als stellvertretender Ministerpräsident (1992–1998) und dann als Ministerpräsident (1998–2003) in den 1990er Jahren Chinas Wirtschaftspolitik mit einem rigorosen Führungsstil entscheidend prägte, gelang es, das Land makroökonomisch zu stabilisieren. Dies erlaubte es den Reformern anschließend, die Öffnung voranzutreiben: das Bankensystem wurde liberalisiert, das Steuersystem reformiert, der Staat zog sich aus vielen Unternehmen zurück, und China öffnete seinen Markt, um der Welthandelsorganisation beitreten zu können (2001).
Die Austeritäts- und Privatisierungspolitik Zhus entsprach den neoliberalen Rezepten. Ganz im Gegensatz zu diesen wurde jedoch gleichzeitig der Staat durch eine Rezentralisierung des Steuersystems, die Schaffung einer einheitlichen Kontrollbehörde für den Finanzsektor und die Ausweitung regulatorischer Eingriffe bedeutend gestärkt. Neben diesen konkreten politischen Maßnahmen stärkte auch Zhus autoritärer Führungsstil die staatlichen Institutionen.[7]
Eine der schwierigsten und umstrittensten Reformen, die unter der Führung Zhus in Angriff genommen wurde, war die Restrukturierung der Schwerindustrie. Die Bedeutung staatseigener Unternehmen für die chinesische Volkswirtschaft sank durch die Schaffung von Staatskorporationen und deren Privatisierung oder Abwicklung während der 1990er Jahre erheblich. Zehntausende staatseigene Betriebe wurden geschlossen, Millionen von Arbeitern entlassen. Gleichzeitig fing der chinesische Staat aber Mitte der 1990er Jahre an, seine Kontrolle über die wichtigsten Unternehmen der Volkswirtschaft zu verstärken. Im Jahre 1995 gab die Partei die Devise aus: Die Großen sammle ein, die Kleinen lasse ziehen („zhua da fang xiao“). Das Staatseigentum wurde in großen Staatskorporationen zusammengefasst, unrentable Betriebe abgewickelt sowie durch verschiedene Formen der de-facto-Privatisierung eine Reihe von kleineren und mittleren Unternehmen abgespalten. Übrig blieben mehrere Hundert „nationale Champions“, Industriegiganten, die profitabel und auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sein sollten.
Im Zuge der Reorganisation von strategischen Sektoren schuf der chinesische Staat seit Mitte der 1990er Jahre gezielt oligopolistische Strukturen. Einige wenige, vom Staat kontrollierte Großunternehmen beherrschen seitdem in Bereichen wie Telekommunikation, Bankenwesen, Luftfahrt, Automobilindustrie und Energiewirtschaft den Markt. Private Unternehmen haben nur beschränkten Marktzugang, zwischen den dominanten Unternehmen gibt es einen kontrollierten Wettbewerb. Peking plant sogar, dieses Modell auf weitere Sektoren auszuweiten. Dies hat auch damit zu tun, dass es in der verarbeitenden Industrie große Überkapazitäten gibt, die durch eine Konzentration der Unternehmen abgebaut werden sollen.
Ein weiteres charakteristisches Merkmal des chinesischen Wegs ist seit Mitte der 1980er Jahre die Konkurrenz unterschiedlicher Regulierungsmodelle. Die Pekinger Zentralbehörden schaffen entweder bewusst Wirtschaftszonen mit unterschiedlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen, um auf diesem Wege einen Wettbewerb um das beste Regulierungsmodell zu stimulieren, oder die Konkurrenz unterschiedlicher bürokratischer Interessen führt zu dieser Vielfalt. Ob es sich um die bewusste Schaffung von Vielfalt handelt oder ob die Behörden die Heterogenität gar nicht aufheben können, weil sie Ergebnis eines Konflikts zwischen unterschiedlichen Teilen des Staatsapparats ist – fest steht, dass dieses Modell der unterschiedlichen Regulierungszonen seit Mitte der 1980er Jahre ein charakteristisches Merkmal der politischen Ökonomie Chinas geworden ist.[8]
Seit Ende der 1990er Jahre macht die chinesische Regierung auch nicht mehr von Anweisungen und Direktiven Gebrauch, um die staatseigenen Unternehmen zu steuern. An die Stelle der Kommandowirtschaft ist Personalmanagement und Personalführung getreten, denn über die Einsetzung und Entlassung der obersten Führungskräfte dieser Unternehmen entscheidet immer noch die Kommunistische Partei Chinas (KPCh). Die Organisationsabteilung des Zentralkomitees der KPCh hat in diesen Firmen in der Regel eine Parteizelle, die für das Personalmanagement zuständig ist. Üblicherweise sind der Generaldirektor (Chief Executive Officer, CEO) und sein Stellvertreter zugleich der Sekretär beziehungsweise der stellvertretende Sekretär der Parteizelle ihres Unternehmens. Auch die anderen Mitglieder der Unternehmensführung gehören gewöhnlich der Parteizelle an. Die Topmanager der staatseigenen Unternehmen sind somit Teil des Nomenklatura-Systems.
Der Spielraum der wichtigsten strategischen Unternehmen wird zudem in zunehmendem Maße von zwei zentralstaatlichen Behörden festgelegt: der Kommission zur Kontrolle und Verwaltung von Staatsvermögen (Guowuyuan guoyouzichan jiandu guanli weiyuanhui, SASAC) und der Staatlichen Kommission für Entwicklung und Reform (Guojia Fazhan he Gaige Weiyuanhui, NDRC). Die 2003 gegründete, dem Staatsrat direkt unterstellte SASAC vertritt die Interessen des Staates als größtem Anteilseigner an den Unternehmen. Bei der Privatisierung und dem Verkauf oder Erwerb von Unternehmenssparten spielte sie in den vergangenen Jahren eine immer größere Rolle. Die NDRC hat als wichtigste industriepolitische Behörde großen Einfluss auf die Investitionsentscheidungen staatseigener Unternehmen und anderer Firmen von strategischer Bedeutung.[9] Die drei Superbehörden haben somit quasi-gesetzgeberische Kompetenzen, wie sie in vielen anderen Staaten dem Parlament zukommen. Die Ziele, die die drei Behörden dem Management der staatseigenen Unternehmen vorgeben, widersprechen sich bisweilen. Ökonomischer Erfolg ihres Unternehmens ist jedoch definitiv ein wichtiger Faktor für die politische Karriere. Viele führende Manager staatseigener Unternehmen konnten nach ihrem Ausscheiden aus der Unternehmensführung in Spitzenpositionen eines anderen Unternehmens in Staatsbesitz wechseln.
All dies hat großen Einfluss auf das Investitionsverhalten der großen chinesischen Unternehmen. Seit Peking 1997 offiziell die Devise ausgegeben hat, dass chinesische Unternehmen ins Ausland gehen sollen, bedeutet deren Profitorientierung, dass sie weltweit bestrebt sind, ihre Märkte auszuweiten. Die drei größten chinesischen Erdölfirmen – CNPC, Sinopec und CNOOC – sind mittlerweile mit einer aggressiven Expansionsstrategie weltweit engagiert und konkurrieren auch außerhalb Chinas miteinander.
Da diese Unternehmen immer noch politische Ziele des chinesischen Staats erfüllen sollen, können sie häufig Verluste, die sie durch die Orientierung auf diese Ziele erleiden, durch zusätzliche Subventionen für ihre Expansion kompensieren. Als internationale Akteure wurden die einzelnen chinesischen Unternehmen dadurch sicher gestärkt. Die Energiesicherheit Chinas wurde hingegen eher beeinträchtigt. Dies ist der Führung in Peking nicht entgangen. Mehrere Behörden erarbeiteten 2014 gemeinsam detaillierte Vorschriften, wie die staatseigenen Ölfirmen bei Fusionen und Übernahmen im Ausland vorzugehen haben. Auch andere staatseigene Großunternehmen könnten in Zukunft stärkerer politischer Koordination unterworfen werden.[10]
Russland: Comeback des Staates nach der Sintflut
Russlands Reformer der frühen 1990er Jahre werden für den wirtschaftlichen Niedergang des Landes in dieser Zeit verantwortlich gemacht. Sie hätten das Land durch die Übernahme der in Washington ersonnenen Regeln an den Rand des Ruins gebracht. Tatsächlich folgten die Reformer gar nicht blindlings den neoliberalen Rezepten, sondern wandelten sie erheblich ab, so dass sie den Interessen der herrschenden Elite entsprachen, die in einem äußerst chaotischen Umfeld während der letzten Tage der Sowjetunion ihre Entscheidungen traf. So wurde das ultraliberale 500-Tage-Programm aus dem Jahr 1990 bei seiner Umsetzung erheblich verwässert.
Die Privatisierung gilt heute als Ursache des oligarchischen Kapitalismus der 1990er Jahre. Tatsächlich blieb jedoch ein großer Teil der Industrieanlagen und Rohstofflagerstätten sowohl von der Coupon-Privatisierung der Jahre 1992–1994 als auch von der Vergabe von Anteilsscheinen gegen Kredite (loans for shares) in den Jahren 1995–1996 ausgenommen. Generell wurde unter Präsident El’cin nur die Hälfte der neoliberalen Standardrezepte umgesetzt. Die wichtigsten Reformen waren die Freigabe der Preise und die Liberalisierung des Handels sowie die Maßnahmen, die die Konvertierbarkeit des Rubels gewährleisteten.[11]
Zu Beginn der 1990er Jahre rechneten viele Beobachter damit, dass die staatlichen Strukturen der postkommunistischen Länder nach dem Ende des sowjetischen Regimes und der Etablierung neuer, der Demokratie und dem Marktgedanken verpflichteter Regierungen den Volkswillen effektiv umsetzen würden. In Russland war jedoch der Staat kaum mehr handlungsfähig und konnte in der ersten Hälfte der 1990er Jahre gesellschaftliche Grundbedürfnisse wie Sicherheit, öffentliche Ordnung, Daseinsvorsorge und makroökonomische Steuerung nicht mehr gewährleisten. Dies hatte erhebliche Folgen für die gesamte politische und ökonomische Transformation.
Die Schwäche des Staates führte dazu, dass die Gewinner der ersten Reformwelle den Staat kapern und weitere Reformen blockieren konnten.[12] Der Anfang vom Ende dieses „oligarchischen Kapitalismus“ war die Finanzkrise von 1998. Sie hatte verheerende Auswirkungen auf das tägliche Leben zahlreicher Menschen in Russland, führte aber zu Veränderungen in der eng miteinander verflochtenen politischen und ökonomischen Elite, die den Aufstieg der etatistischen Gruppe unter Vladimir Putin ermöglichte und neue Chancen für Marktreformen eröffnete.
Putin setzte in seinen ersten beiden Jahren im Amt des Präsidenten mehrere entscheidende Gesetze durch. Anstelle der progressiven Einkommenssteuer für Privatpersonen trat ein einheitlicher Steuersatz von 13 Prozent, die Körperschaftssteuer wurde von 35 auf 24 Prozent herabgesetzt und die Besteuerung bei einer einzigen Behörde zusammengefasst.[13] Im Jahre 2002 gab die Staatsduma den Verkauf landwirtschaftlich genutzter Flächen frei. Die gesetzlichen Vorschriften für kleine Unternehmen wurden massiv reduziert, so dass deren Zahl explodierte. All diese Reformen gingen nicht auf Vorschläge westlicher Berater oder Forderungen internationaler Kreditgeber zurück. Russland konnte 2006 seine gesamten Schulden beim IWF in Höhe von 22 Milliarden US-Dollar vorzeitig zurückzahlen.
Wie in China ging Putins neoliberale Politik jedoch nicht mit einer Schwächung, sondern einer Stärkung des Staats einher. Dieser wurde zunehmend unabhängig von internationalen Einflüssen wie von gesellschaftlichen Akteuren – seien es die großen Medien, die Gouverneure einzelner Regionen, widerspenstige Oligarchen oder Mafiabosse –, die zuvor auf ihn Einfluss genommen hatten. Nachdem die Konsolidierung des Staates gelungen war, begannen Putin und die zentralstaatlichen Behörden, ihre Kontrolle über die Wirtschaft auszuweiten. Die in Putins erster Amtszeit aufgekommenen Begriffe „Machtvertikale“ und „gelenkte Demokratie“ benennen die Richtung.
In Russland ist – anders als eigentlich in China – angesichts der ökonomischen Struktur des Landes die Kapitalkonzentration und die Verstärkung der staatlichen Kontrolle ein naheliegender Weg. Die große Bedeutung der Grundstoff- und Metallindustrie mit ihren hohen irreversiblen Kosten (sunk costs) fördert die Monopolbildung. Tatsächlich werden diese Sektoren von wenigen Großunternehmen beherrscht, die grundsätzlich in der Lage sind, erheblichen Einfluss auf den Staat auszuüben. Als der Staat in Russland um 2003 ökonomisch gestärkt und gleichzeitig zu physischem Zwang wieder in der Lage war, begann er, in mehreren Schlüsselsektoren Unternehmen zu kaufen oder auf anderem Weg unter Kontrolle zu nehmen. Zugute kam dem Staat, dass die Privatisierungen der 1990er Jahre von einer Mehrheit der Gesellschaft als illegitim angesehen wurden und die Eigentümer der großen Unternehmen verschrien waren.[14] Insbesondere in der Energiewirtschaft, beim Kraftwerksbau, beim Flugzeugbau und im Finanzsektor hat der Staat seit Anfang 2004 seinen Einfluss mit unterschiedlichen Methoden erheblich ausgeweitet.[15] Am grobschlächtigsten und „unzivilisiertesten“ war das Vorgehen im Falle von Jukos, der damals größten privaten Erdölgesellschaft Russlands.[16]
Im Falle von Jukos bereicherten sich einige Mitglieder der unter Putin aufgestiegenen politischen Elite auf äußerst aggressive Weise und vergrößerten ihre persönliche Macht. Doch dies trifft nicht auf alle Wiederverstaatlichungen zu. In einigen Fällen hatten die Behörden ehrgeizige Entwicklungsziele, die sie auch rasch umzusetzen versuchten. Auf Wiederverstaatlichung setzten die Behörden vor allem in jenen Sektoren, in denen der Staat zu schwach für eine indirekte Einflussnahme auf die Unternehmen war. In anderen Bereichen, etwa in der Stromwirtschaft, berücksichtigten die Moskauer Behörden bei der Liberalisierung einige der Forderungen verschiedener oligarchischer Konglomerate, um diese im Gegenzug bei der Regionalentwicklung in die Pflicht nehmen zu können.[17]
Nachdem der Staat seine Kontrolle über eine Reihe von Schlüsselindustrien gefestigt hatte, entwickelte das Putin-Regime – ebenso wie in China die KPCh – seine Modernisierungsagenda weiter und begann, einige große Unternehmen als „nationale Champions“ aufzubauen. Diese Konzerne erhalten verschiedene Formen staatlicher Unterstützung. Auf internationaler Ebene konkurrieren sie miteinander, in Russland wird von ihnen erwartet, dass sie Arbeitsplätze schaffen und zu den staatlichen Sozialprogrammen beitragen. In den Jahren 2006–2007 wurden qua Sondererlass acht „Staatskorporationen“ mit einem speziellen rechtlichen Status gegründet. Ihre Aufgaben reichen von der Wiederbelebung des Flugzeugbaus (Ob”edinennaja Aviastroitel’naja Korporacija/United Aircraft Corporation, OAK/UAC) und des Schiffsbaus (Ob”edin-ennaja Sudostroitel’naja Korporacija/ United Shipbuilding Corporation, OSK/USC) über den Aufbau einer Nanotechnologie-Industrie (Rosnano) bis zur Finanzierung von Entwicklungsprojekten (Bank razvitija i vnešneėkonomičeskoj dejatel’nosti, kurz: Vnešėkonombank, VĖB) und zur Vorbereitung der Olympischen Spiele in Soči (Olimpstroj).[18]
Anders als China wird Russland nicht mehr von einer einzigen Partei regiert, jedoch auch nicht von konkurrierenden Parteien. Die Bedeutung von Parteien als Ort der Auswahl, Überwachung und Beförderung von Managern in staatseigenen Firmen ist seit dem Ende der kommunistischen Herrschaft erheblich zurückgegangen. Die Organisationsabteilung des Zentralkomitees der KPCh und die Kommission zur Kontrolle und Verwaltung von Staatsvermögen haben kein Pendant in Russland. Die politische Kontrolle und Bewertung der Leistung von Spitzenmanagern staatseigener Firmen ist weniger institutionalisiert als in China, sprich personalisierter.
Anders als im oligarchischen Kapitalismus der El’cin-Ära stehen in Putins Staatskapitalismus hochrangige Politiker und Beamte an der Spitze der Großkonzerne. Meist kommen sie aus den Sicherheitsapparaten und gehören seit Putins Petersburger Zeit in den 1990er Jahren zu dessen unmittelbarem Umfeld. Der Aufsichtsratsvorsitzende von Rosneft’ Igorʼ Sečin war bis zu seinem Rücktritt im Jahre 2011 stellvertretender Ministerpräsident. Dmitrij Medvedev war Vorsitzender von Gazprom und gleichzeitig erster stellvertretender Ministerpräsident, bevor er 2008 zum Präsidenten gewählt wurde. Der Aufsichtsratsvorsitzende von Gazprom Viktor Zubkov war als Ministerpräsident bereits stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender des Erdgaskonzerns gewesen. Der Vorstandsvorsitzende (CEO) von Gazprom Aleksej Miller gilt als Angehöriger der Sankt-Petersburger Gruppe, die Putin in das Moskauer Machtzentrum geholt hat.
Unter Präsident Medvedev (2008–2012) gab es zwar Ansätze, die enge Verflechtung von Staat und Wirtschaft etwas zu lockern. Alle Regierungsmitglieder im Amt eines stellvertretenden Ministerpräsidenten oder eines Ministers an der Spitze eines Ministeriums, dessen Aufgabenbereich die Tätigkeit eines bestimmten Staatsunternehmens berührt, sollten ihre Posten im Verwaltungs- oder Aufsichtsrat dieser Unternehmen niederlegen.[19] Diese Weisung wurde jedoch nicht strikt eingehalten und hat nach dem Ausscheiden Medvedevs aus dem Präsidentenamt kaum mehr Erwähnung gefunden. Seit Putin 2012 erneut Präsident wurde, hat die Verquickung von Staat und Wirtschaft sogar zugenommen.[20]
Die große Nähe von Staat und Wirtschaft hat auch Auswirkungen auf das Verhalten der staatseigenen Konzerne im internationalen Umfeld:
Der Kreml ist zwar nicht in der Lage, dem Erdgasmonopolisten Gazprom ein konkretes Vorgehen zu diktieren, aber er formte geschickt dessen strategische Präferenzen, so dass die internationalen Aktivitäten des Konzerns Moskaus diplomatischen Zielen gegenüber bestimmten Staaten dienen.[21]
Gleichzeitig hat Gazprom mehr Erfolg beim Einstieg in Förderprojekte außerhalb Russlands – so im Irak, in Algerien, in Vietnam, in Bolivien sowie in Venezuela – als die Erdölgesellschaften des Landes. Dies hat auch damit zu tun, dass Gazprom das Exportmonopol hat und die politischen Interessen des Staates und die ökonomischen Interessen des Konzerns im Falle des Einstiegs in Förderprojekte praktisch identisch sind.
Russlands Ölsektor durchlief hingegen in den 1990er Jahren eine turbulente Zeit, in der die Unternehmen privatisiert, restrukturiert und erneut verstaatlicht wurden. Unklare Eigentumsverhältnisse sowie große Anteile von Streubesitz an den Aktien führten neben einer intransparenten Rechtslage dazu, dass Russlands Erdölgesellschaften nicht so schnell international expandieren konnten. In den 1990er Jahren vertrat zwar Lukoil, Russlands größte private Erdölgesellschaft, faktisch die Interessen des Staats auf dem globalen Ölmarkt. Doch seit 2003–2004 stellt der staatseigene Konzern Rosneft’ den Status von Lukoil als Russlands „Erdölbotschafter“ in Frage. Es gab sogar Bestrebungen, Rosneft’ und Gazprom zu einem einzigen, horizontal integrierten Energiegiganten zu verschmelzen.[22] Auch wenn der Kreml von dieser Idee abgerückt ist, zeigen solche Vorhaben doch, dass der Staat in Russland gewillt ist, die Kommandohöhen der Wirtschaft direkt unter seine Kontrolle zu nehmen. Zu erwarten steht daher, dass das Vorgehen von Gazprom und Rosneft’ im internationalen Umfeld noch besser aufeinander abgestimmt sein wird.
Die Vergabe von Führungsposten in staatseigenen Unternehmen an hochrangige staatliche Funktionäre hat auch Auswirkungen auf die Investitionsstrategien der staatlichen Ölgesellschaften. Diese spiegeln die geopolitische Orientierung Russlands wider, was sich daran zeigt, dass sie vor allem in Ländern investieren, die entweder geopolitische Verbündete aus Sowjetzeiten sind, befreundete Staaten des postsowjetischen Russland oder ideologische und geopolitische Gegner der Vereinigten Staaten. Ein weiterer Grund für die geographische Fokussierung ist, dass Russlands staatseigene Ölkonzerne im Vergleich zu den sehr aktiv expandierenden chinesischen staatlichen Erdölgesellschaften eher zurückhaltend agieren. Ihr Gewinnstreben ist nicht so ausgeprägt, daher gehen sie geringere Risiken ein und ordnen sich eher den strategischen Interessen des Staates unter.
Gemeinsamkeiten der Staatskapitalismen
Ungeachtet zahlreicher Unterschiede haben die staatskapitalistischen Systeme Chinas und Russlands auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Beide Länder waren aufgeschlossen für die Idee des freien Marktes und für eine vollumfängliche Integration in die Weltwirtschaft. Doch setzten sie nie auf ein lupenreines neoliberales Programm. Beide Länder haben die Rolle des Staates als Investor und Kreditgeber gestärkt, um sich Wettbewerbsvorteile in Schlüsselsektoren zu verschaffen. Zwar beanspruchen Moskau und Peking nicht mehr wie zu Zeiten des Ost-West-Konflikts, ein alternatives Modell zum Kapitalismus zu repräsentieren. Ganz im Geiste der globalen Entpolitisierung verwenden die staatskapitalistischen Regime lediglich die scheinbar neutralen Begriffe „Entwicklung“ und „Modernisierung“ als höchstes Ziel ihrer Politik.[23]
Russland und China sind heute viel weniger den vom internationalen System und dem internationalen Kapital ausgehenden Zwängen ausgesetzt, als es jene Länder waren, die nach dem Zweiten Weltkrieg eine nachholende Entwicklung durchliefen. China war nie in großem Maße von den internationalen Finanzinstitutionen abhängig. Russland musste zwar einige Male auf Kredite des IWF zurückgreifen, hat diese aber zurückgezahlt und dies als großen Sieg gefeiert. Heute haben beide Staaten große Währungsreserven angehäuft, China hält darüber hinaus sogar US-amerikanische Staatsanleihen. Peking und Moskau werden daher nicht in Gefahr geraten, sich den Bedingungen unterwerfen zu müssen, die mit einer Kreditvergabe des IWF einhergehen. Wenn China und Russland also auf Kernelemente des Washington Consensus wie eine restriktive Fiskalpolitik setzen, so tun sie dies nicht unter Zwang.
Beide Länder setzen in erheblichem Maße auf staatliche Interventionen in die Wirtschaft und sowohl Peking als auch Moskau haben nach dem Ende des Kommunismus direkt oder indirekt erneut auf eine staatlich geförderte Modernisierungspolitik gesetzt. Sowohl in China wie in Russland hat die Privatisierungs- und Liberalisierungswelle der 1980er und 1990er Jahre dazu beigetragen, dass eine neue Form von hybridem Kapitalismus entstanden ist, in dem der Staat die Investitionsentscheidungen privater Unternehmen über Aktienbeteiligungen beeinflusst.[24]
China und Russland setzen erheblich avanciertere Instrumente zum Umgang mit in- und ausländischem Kapital ein als frühere staatskapitalistische Regime. Es gelingt ihnen weit besser, ihre Ziele mit kapitalistischen Methoden zu erreichen. Statt Bürokraten oder Kumpane an die Spitze von Unternehmen zu setzen, überlassen sie diese Aufgabe professionellen Managern.[25] An die Stelle der alten Staatsbetriebe sind vom Staat kontrollierte Unternehmen getreten, die immer mehr Kapital und Macht konzentrieren, während gleichzeitig die Staatsquote sinkt. Anders ausgedrückt: Im modernen Staatskapitalismus wächst zwar der private Sektor, doch der Staat weitet seine Kontrolle über die Kommandohöhen der Wirtschaft aus.[26] Eine Reihe von Großkonzernen, die zu „nationalen Champions“ aufgebaut wurden, mögen sich formal zwar in Privateigentum befinden, doch sie werden massiv vom Staat unterstützt, sei es verdeckt oder sogar offen.
China und Russland haben in großem Stil im Ausland investiert und sind auf dem Weltmarkt präsent. In einer Reihe von Sektoren und zahlreichen Ländern gehören sie zu den wichtigsten Investoren, denn ihre Ressourcen sind nicht geringer als die der großen kapitalistischen Staaten. So floss in den Jahren 2010 und 2011 mehr Geld aus China in die Entwicklungsländer, als diese in Form von Krediten von der Weltbank erhielten.[27] Ganz in diesem Trend steht die Gründung der Asiatischen Bank für Infrastrukturinvestitionen im Jahr 2014 sowie die geplanten Gründungen einer Entwicklungsbank der BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) und einer Bank der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Die meisten Großkonzerne der beiden Staaten – in Russland etwa Gazprom und Rosneft’, in China alle drei großen Erdölgesellschaften – sind börsennotierte Unternehmen und werden damit sowohl von privatem Kapital als auch von nationalen und internationalen Aufsichtsbehörden kontrolliert. Dieses neue innerstaatliche Umfeld hat zur Entstehung einer neuen Art von Wirtschaftssubjekten beigetragen und die Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft in den neuen staatskapitalistischen Systemen verändert.
China und Russland setzen nicht mehr wie noch bis in die 1980er Jahre auf Protektionismus. Stattdessen betreiben sie durch gezielte Kreditvergabe und Anreize für ausländische Investoren Industriepolitik, um global wettbewerbsfähig Industrien zu bewahren oder zu schaffen. Nationale Entwicklungsbanken wie die China Development Bank und die Vnešėkonombank tun das, was die Weltbank gerade nicht mehr tun will: Sie fördern mit erheblichen Mitteln staatliche Entwicklungsziele. Auch nach der Eskalation des Konflikts mit dem Westen nach der Annexion der Krim hat sich an dieser Politik nichts geändert. Obwohl die westlichen Staaten Russland mit empfindlichen Sanktionen belegt haben, hat Russland kein Einfuhrverbot für industrielle Erzeugnisse verhängt. Moskaus Gegensanktionen beschränken sich bislang auf Lebensmittel und Agrarerzeugnisse. Der Kreml setzt nicht auf Isolation, er hat vielmehr seine Anstrengungen verstärkt, neue Wirtschaftsbeziehungen mit nicht-westlichen Staaten zu knüpfen oder bestehende zu vertiefen.
Die staatskapitalistischen Systeme in China und Russland sind weder nach den Prinzipien des Washington Consensus geschaffen worden, noch stellen sie revolutionäre Gegenentwürfe zu dem neoliberalen Modell dar. Beide Staaten sind nicht gezwungen, sich an Vorgaben der internationalen Finanzinstitutionen zu halten, ja lehnen diese explizit ab, verfolgen aber dennoch keine Politik, die dem Washington Consensus in seiner ursprünglichen Form diametral zuwiderlaufen würde. Gleichzeitig verfügt der Staat in diesen Systemen über neue Instrumente und Steuerungsmethoden, so dass er mit kapitalistischen Mitteln in kurzer Zeit Modernisierungsziele erreichen kann. Der neue Staatskapitalismus ist somit ein hybrides System, in dem neoliberale Instrumente kombiniert sind mit Steuerungsinstrumenten und Kontrollmechanismen, die man mit etatistischen Entwicklungsdiktaturen verbindet, die jedoch im kapitalistischen System entwickelt worden sind. Dieser hybride Charakter des neuen Staatskapitalismus wird den Entwicklungsweg Chinas und Russlands in den nächsten Jahren bestimmen.
Anders als frühere staatskapitalistische Systeme haben weder China noch Russland bislang die liberale Weltordnung offen in Frage gestellt. Weder China noch Russland versuchen, eine isolierte Parallelwelt mit eigenen Regeln zu errichten, die mit der kapitalistischen Welt konkurrieren würde. Ein neuer Ost-West-Konflikt ist daher unwahrscheinlich.
Gleichwohl werden China und Russland gemeinsam mit einigen anderen aufstrebenden Schwellenländern den „liberalen Leviathan“, den die USA nach dem Ende des Ost-West-Konflikts geschaffen haben, herausfordern. So arbeiten Peking und Moskau seit über zehn Jahren daran, die Regeln der internationalen Wirtschaftsordnung zu verändern. Drei Methoden setzen sie ein: Zum einen versuchen sie, das bestehende System von innen zu reformieren. So haben beide Staaten vorgeschlagen, die Stimmverteilung im Internationalen Währungsfonds zugunsten der aufstrebenden Schwellenländer zu ändern. Sie argumentieren, dies würde den IWF demokratischer machen und zu besseren Entscheidungen führen. Ein zweiter Ansatz der beiden Staaten ist, neue Regeln und Institutionen zu schaffen oder bestehende zu verändern. Ziel ist es, Lücken in der bestehenden Ordnung zu füllen, die Peking und Moskau ausgemacht haben. Ein Beispiel ist die Gründung der Asiatischen Bank für Infrastrukturinvestitionen im Jahr 2014, die vor allem in Ländern arbeitet, deren Investitionsbedarf von den bestehenden Finanzinstitutionen – etwa der Asiatischen Entwicklungsbank – nicht in dem Maße gedeckt wurde, wie diese Staaten es gewünscht hatten. Die dritte Methode zur Veränderung der Regeln der internationalen Wirtschaftsordnung ist die Schaffung von Parallelwelten im Umfeld der bestehenden Institutionen mit ihrem marktliberalen Ansatz. Diese Strategie ähnelt jener, die Peking in den 1980er Jahren in China selbst wählte: Das alte System bleibt bestehen, gleichzeitig wird der Spielraum für das Heranreifen eines neuen Systems geschaffen. Die beiden Systeme müssen nicht in offene Konkurrenz treten, das alte System kann auch mit der Zeit schlicht an Bedeutung verlieren und irrelevant werden.
So vertrauen etwa Moskau und Peking zur Finanzierung ihrer strategischen Unternehmen nicht auf die volatilen Aktienmärkte, sondern setzen auf langfristige Kredite und werden wahrscheinlich auch Kapitalkontrollen anwenden sowie ihre Zentralbanken einsetzen, um Industriepolitik im eigenen Land zu betreiben und die weltweiten Aktivitäten der Konzerne aus ihren Ländern zu unterstützen. Da dies die Wettbewerbsfähigkeit westlicher Unternehmen schwächt, die keine solche staatliche Unterstützung im Rücken haben, exportieren Moskau und Peking auf diese Weise auch die staatskapitalistischen Prinzipien. All dies ändert allerdings nichts daran, dass die Profitorientierung auch in Russland und China das zentrale Merkmal der Wirtschaftsordnung ist. Bei beiden Systemen handelt es sich um Untertypen des modernen Kapitalismus. Gleichwohl wird die Konkurrenz zwischen Staatskapitalismus und freier Marktwirtschaft die internationale politische Ökonomie daher auf absehbare Zeit prägen.[28]
Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer, Berlin
[1] John McMillan und Barry Naughton: How to Reform a Planned Economy. Lessons from China, in: Oxford Review of Economic Policy, 1/1992, S. 130–143. – Michael Burawoy: The State and Economic Involution. Russia through a Chinese Lens, in: World Development, 6/1996, S. 1105–1117.
[2] Zum Washington Consensus siehe John Williamson: A short history of the Washington Consensus. Washington D.C. 2004, .
[3] Ian Bremmer: State Capitalism Comes of Age, in: Foreign Affairs, 3/2009, S. 40–55.
[4] James Petras: State Capitalism and the Third World, in: Development and Change, 1/1977, S. 1–17.
[5] Raymond D. Duvall, John R. Freeman: The State and Dependent Capitalism, in: International Studies Quarterly, 1/1981, S. 99–118.
[6] Für einen Überblick über die chinesischen Wirtschaftsreformen in der Zeit nach Mao siehe Barry Naughton: The Chinese Economy. Transitions and Growth. Cambridge, MA 2007, Kapitel 4, Market transition. Strategy and process.
[7] Exemplarisch Dali Yang: Remaking the Chinese Leviathan. Market transition and the politics of governance in China. Stanford, CA 2004.
[8] Dies ist im Wesentlichen eine Erweiterung des Modells des „fragmentierten Autoritarismus“; wie es entwickelt worden ist, siehe Kenneth Lieberthal, David M. Lampton (Hg.): Bureaucracy, Politics, and Decision Making in Post-Mao China. Berkeley, CA 1992.
[9] Zu weiteren Details dieser Regulierungskörperschaften siehe Margaret Pearson: Variety Within and Without. The Political Economy of Chinese Regulation, in: S. Kennedy (Hg.): Beyond the Middle Kingdom. Comparative Perspectives on China’s Capitalist Transformation. Stanford, CA 2011, S. 25–43.
[10] Noch weiter im Detail ausgeführt habe ich die vergleichende Analyse der Frage, wie die inländischen Herrschaftsstrukturen dreier großer aufstrebender Wirtschaften (China, Russland und Indien) das Verhalten ihrer nationalen Erdölgesellschaften in Übersee bestimmen, in einem anderen Arbeitspapier: Xin Zhang: Governing National Oil Companies in Emerging Economies. Arbeitspapier. Shanghai, East China Normal University, 2014.
[11] Peter Rutland: Neoliberalism and the Russian Transition, in: Review of International Political Economy, 2/2013, S. 332–362, hier S. 339–340. – Einen Überblick zur Privatisierung bietet Roland Götz: Vom privatisierten Staat zum verstaatlichten Markt? Eigentum in der Sowjetunion und in Russland, in: Osteuropa, 5–6/2013, S. 315–332.
[12] Joel S. Hellman: Winners Take All. The Politics of Partial Reform in Postcommunist Transitions, in: World Politics, 2/1998, S. 203–234. – Joel S. Hellman, Geraint Jones, Daniel Kaufmann: Seize the state, seize the day. State capture and influence in transition economies, in: Journal of Comparative Politics, 4/2003, S. 751–773.
[13] Anders Aslund: An Assessment of Putin’s Economic Policy. Peterson Institute for International Economics, Washington, D.C., Juli 2008.
[14] Siehe dazu Boris Dubin, Lev Gudkov: Der Oligarch als Volksfeind. Der Nutzen des Falls Chodorkovskij für das Putin-Regime, in: Osteuropa, 7/2005, S. 52–75.
[15] Siehe dazu Jakov Pappė, Ekaterina Drankina: Kak nacionalizirujut Rossiju. Kommersant” Den’gi, 10.9.2007.
[16] Richard Sakwa: The Quality of Freedom. Khodorkovsky, Putin, and the Yukos affair. Oxford, New York 2009. – Otto Luchterhandt: Rechtsnihilismus in Aktion. Der Jukos-Chodorkovskij-Prozeß in Moskau, in: Osteuropa, 7/2005, S. 7–37. – Ders.: Verhöhnung des Rechts. Der zweite Strafprozess gegen Michail Chodorkovskij und Platon Lebedev, in: Osteuropa, 4/2011, S. 3–42.
[17] Susanne A. Wengle: Post-Soviet Developmentalism and the Political Economy of Russia’s Electricity Sector Liberalization, in: Studies in Comparative International Development, 1/2012, S. 75–114.
[18] Eine detaillierte Analyse dieser neuen Staatskorporationen bietet Vadim Volkov: State Corporations. Another institutional experiment, in: Pro et Contra, 5–6/2008, S. 67–79.
[19] Priloženie k perečnju poručenij po osuščestvleniju pervoočerednych mer, napravlennych na ulučšenie uslovij investicionnogo klimata v Rossii, .
[20] Goskompan’ony: Podgotovleny spiski činovnikov-kandidatov v direktora goskompanij. Kommersant”, 4.12.2012.
[21] Adam N. Stulberg: Well-oiled diplomacy: strategic manipulation and Russiaʼs energy statecraft in Eurasia. Albany 2007, S. 14.
[22] Siehe dazu: Shamil Yenikeyeff: Privatisierungspläne, Machtkämpfe, Instabilität. Russlands Ölindustrie in der Putin-Krise, in: Osteuropa, 6–8/2012, S. 163–178.
[23] Hui Wang: Depoliticized Politics. From East to West, in: New Left Review, 9–10/2006, S. 29–45.
[24] Aldo Musacchio, Sérgio G. Lazzarini: Reinventing State Capitalism. Leviathan in Business, Brazil and Beyond. Cambridge, MA 2014.
[25] Auch wenn in Russland hochrangige Politiker und Beamte aus Putins langjährigem Umfeld an der Spitze einiger Großkonzerne stehen, so gehören dem Vorstand doch viele professionelle und erfahrene Manager an.
[26] The Economist: Special report. State capitalism, in: The Economist, 21.1.2012.
[27] China’s Lending Hits New Heights. Financial Times, 17.1.2011.
[28] Ähnlich argumentieren Matthew D. Stephen: Rising Powers, Global Capitalism and Liberal Global Governance. A historical materialist account of the BRICs challenge, in: European Journal of International Relations, 4/2014, S. 912–938, sowie Barry Buzan, George Lawson: Capitalism and the Emergent World Order, in: International Affairs, 1/2014, S. 71–91.